Mich interessiert das Leben

Kathrin Frauenfelder

Als Brigitta Malche 1983 nach einem zweijährigen Aufenthalt in Peking, wo sie mit ihrem Mann lebte und an der Akademie der bildenden Künste als Gastdozentin unterrichtete, wieder nach Europa zurückkehrte, hatte sich ihre Sicht der Realität fundamental geändert. Bewegten sich vor ihrer Abreise ihre Bildfindungen im Umfeld der konstruktiven und konkreten Kunst, so waren ihr die Strenge und Rationalität der Geometrie bei ihrer Rückkehr ein zu enger Bezugsrahmen, um ihre Erkenntnisse zum Ausdruck zu bringen. In ihrem geistigen Gepäck brachte Malche ungewohnte Einsichten mit. Die Welt erfuhr sie als fragiler und transparenter. Zurück in Europa erschien zunächst das Bekannte fremd. In der «Heimat» erlebte sie Heimatlosigkeit.

Lichträume

In einer längeren Phase der geografischen Akklimatisation und der kulturellen Orientierung suchte Malche nach geeigneten Darstellungsmitteln, mit denen sie vor dem Hintergrund der östlichen Erfahrung, den Wiederanschluss an die westliche Tradition bewerkstelligen konnte. Mit der Realisierung einer Lichtinstallation 1991 im Kunsthaus Zürich gelang der Aufbruch. Die Künstlerin realisierte einen viel beachteten Erfahrungsraum. Im Wechsel des farbigen Lichtes und in einer präzise bemessenen Abfolge von Klängen, die nacheinander die vier Elemente simulieren, evozierte die Künstlerin die Stimmung der vier Jahreszeiten. Malches atmosphärisch aufgeladener Lichtraum rührte an die Emotionen des Publikums. Das Unfassbare des Lichtes in Verbindung mit den natürlichen Geräuschen versetzte in eine kontemplative Befindlichkeit.

Lichtakte

Die Ausdruckskraft und die Darstellung von Licht wurde zum eigentlichen Thema der Künstlerin. Angeregt zu diesem Sujet wurde sie durch die Konzepte der spirituellen Traditionen, insbesondere der islamischen Mystik, wo im Sufismus der Begriff des schwarzen Lichtes der Urgrund alles Seienden bezeichnet. Mit der Darstellung des schwarzen Lichtes entdeckte sie das Mittel, um die Atmosphäre des meditativen Raumes in das Medium der Malerei zu übersetzen.

Zu diesem Thema entsteht 1995 das in Mischtechnik gemalte zweiteilige Bild Schwarzes Licht. Der linke Bildteil ist vergleichbar einem Palimpsest. Mehrere Schichten unterschiedlicher Farbmaterie lagern übereinander. Durch die in einem langwierigen Prozess des Auftragens und Abschabens von Farbe entstandenen Schichten schimmern die Zeichen eines handgeschriebenen Textes durch. Eine Art «Fenster» bricht die Homogenität der Bildfläche auf. In der rechten Bildhälfte sind über schwarzem Grund in heftiger Gestik weisse Farbstrukturen gemalt. Das schwarze Licht repräsentiert die Ursache aller Ursachen. Es ist nicht nur die Einheit, in der von Anfang an alles enthalten ist und aus der alles hervorgeht. Es ist selbst Energie, Impuls und Schöpfungslicht. Das weiße Licht ist die Materialisierung aus dem schwarzen Licht.
In fuga mundi (1997) steht der dunkle undurchdringbare Raum im Dialog mit einem hellen Bildgrund. Pflanzen, Zahlen- und Buchstabenkombinationen sind in den Bildgrund eingearbeitet und stellen unterschiedliche Materialisierungsgrade dar. Neben Buchstaben- und Zahlencodes tauchen in Impulse (1997) und Energie (1997) Darstellungen von Wirbelsäulen und einzelnen Wirbeln als Zeichen auf. Malche beabsichtigt nicht, die Wirklichkeit zu kopieren, sondern ist bestrebt, ein tieferes Verständnis der Materialität und der Architektur der Wirklichkeit zu gewinnen. Dazu hat die Künstlerin eine chiffrereiche Symbolsprache entwickelt. Die Buchstaben und Texte verweisen auf die Schöpfungsgeschichte, die Zahlen auf die Codes der Wissenschaft. Wirbel und Wirbelsäule stehen für Energiezeichen und verweisen auf Energiezentren in Mensch und Kosmos.
Malches Kunst erweist sich als ein Nachdenken über die Zusammenhänge von Religion und Wissenschaft, von Schöpfungsgeschichte und Evolution mit den Mitteln der Kunst. Dabei findet dieses Nachdenken seinen Ausdruck auch in einer differenzierten Gestaltung vielschichtiger Bildräume. So sind die verschiedenen Schichten der Bilder aus unterschiedlichen Materialien aufgebaut. Die unterste Schicht aus weißem Stuck wird mit ocker-, umbra- oder sienafarbenen Pigmenten gestärkt. Graphit wird mit einem Wattebausch aufgetragen und mit dem Handballen glatt gestrichen. Je nach Körnung führt dieses Verfahren zu helleren oder dunkleren Bildgründen. Hauchdünn aufgetragenes Blattsilber wird dem Prozess der Oxidation ausgesetzt. Der Malvorgang ist nicht nur jener des Auftragens. Die Künstlerin schabt die Farbe auch immer wieder ab und trägt neue Schichten auf.

Genesis-Zyklus

Die Schöpfungsgeschichte findet ihre Fortsetzung im Genesis-Zyklus, den die Künstlerin im Jahre 2001 aufgenommen hat. In diesem Zyklus konzentriert sie sich auf die Darstellung des fünften Schöpfungstages. An diesem Tag schuf Gott das Leben im Wasser und auf dem Lande, die Pflanzen und die Tiere.
Mit Der fünfte Tag entsteht 2002 ein Schlüsselwerk. Die Arbeit besteht aus vier Teilen. Die Arbeit führt modellhaft den Schöpfungsprozess vor. Auf der ersten Tafel ist eine Wasserlilie, die aus dem schwarzen Urgrund hervorgeht, dargestellt. Auf der nächsten Tafel ist auf dem hellen Hintergrund die Verdoppelung der Pflanze, auf der dritten Tafel ist die Pflanze in der Vergänglichkeit ihrer Existenz dargestellt.
Der Schöpfungstraum (2003) ist eine sinnlich poetische Umsetzung der schematischen Darstellung der Kabbala. Die fünf Tafeln sind von oben nach unten und von links nach rechts zu lesen und stellen die fünf kabbalistischen Schlüsselbegriffe Schönheit, Ich/Fundament, Königreich/ Materie, Intellekt und Ewigkeit dar. Das aus der Tiefe der Schwärze hervorgehende pulsierende Leben erscheint vor dem silbernen Hintergrund als noch ungeformte Lebensenergie. Ihre Ausdifferenzierung vom Strang einzelner Nervenfasern zur tragenden Wirbelsäule ist auf einer anderen Tafel zu sehen. Die Zahlenreihe widerspiegelt die kabbalistischen Schlüsselbegriffe in codierter Form.
Die frühen Bilder waren noch primär abstrakt und kreisten um das Motiv des schwarzen Lichtes. Die Bilder des Genesis-Zyklus gewinnen an Komplexität und an Konkretion. Zunehmend finden konkrete, lesbare Pflanzen- und Tiermotive, die Entstehung des Lebens repräsentierend, Eingang in Malches Kunst. Ausgang der jüngeren Bildfindungen sind Abbildungen aus der Paläontologie und der Biologie. Malche kopiert Abbildungen von versteinerten Pflanzen und Tieren, deren Strukturen sie in die Bildräume einarbeitet.
Seit der Entwicklung der Evolutionstheorie hat die Betrachtungsweise des religiösen Glaubens etwas zutiefst Beunruhigendes für das Denken der Wissenschaften. Umgekehrt werden Vernunft und Wissenschaft als sehr begrenztes und deshalb untaugliches Mittel für die Erörterung dessen angesehen, was die religiöse Betrachtungsweise als Glaubensangelegenheit definiert. In der jüdischen Mystik findet Malche ein Konzept, das Berührungspunkte mit der Evolutionstheorie aufweist. So war auch die chiffrereiche Darstellung Evolution (2002) im Zusammenhang mit dem Konzept der Kabbala entstanden. Die erste Tafel stellt das schwarze Licht dar, welches, selbst undarstellbar, Pool aller Möglichkeiten und werdenden Gestaltungen ist. Nach einer kabbalistischen Vorstellung sind die unteren Welten durch die Reflexion der oberen Lichter entstanden. Die weiße Tafel repräsentiert die Spiegelung der im schwarzen Licht angelegten Gestaltungen.
Malche beschränkt sich nicht darauf, das Überlieferte in der fixierten Form zu übernehmen. Sie setzt die überlieferten Formeln in Dialog mit heutigen wissenschaftlichen Erkenntnis- und Darstellungsformen. In Le réveil des espèces (1998/2003) stellt sie den Bauplan und die Funktionsweise der Doppelhelix in der Form einer Computerillustration in Beziehung mit dem von ihr entwickelten Bilderkosmos des schwarzen Lichtes.
Malches Bilder laden zur stillen Betrachtung ein. Was die Künstlerin in ihren Collagen zu einer Einheit zusammenführt, sind oft Elemente aus weit auseinander liegenden Vorstellungsbereichen. Dennoch ist keine Willkür spürbar: «Den Bogen vom schwarzen zum weißen Licht – vom Irrationalen zur physikalischen Gesetzmäßigkeit – will ich malend ausloten» sagt die Künstlerin.1
Malches künstlerische Arbeit ist eine Arbeit der Interpretation, in der sie klärt, was Bedeutung hat und was nicht, was als wichtig und was als unwichtig erscheint. Die Arbeit der Interpretation richtet sich auch darauf, die Zusammenhänge kennen zu lernen und zu entziffern. Sie will wissen, wie etwas zu verstehen ist. Dabei geht es ihr jedoch nicht um das einfache Erschließen einer Bedeutung. Ihre Arbeit besteht darin, selbst Bedeutung herzustellen, um dem Leben Sinn zu geben. Malches malende Hand ist auf den Bildern stets spürbar.

1 Malche, Brigitta: «Das Ich – ein Work in progress», Selbstporträt, Schweizer Kunst, 2/99, Zürich, S. 25.

Foto: Hans Knuchel